Wird nur noch in Schwarz – Weiß gedacht?
In der Diskussion um das offenbar zunehmende Schwarz-Weiß-Denken fällt immer wieder der Begriff „Ambiguitätstoleranz“ — gemeint ist damit die Fähigkeit, Widersprüche und Unsicherheiten zu akzeptieren.
Solche Widersprüche auszuhalten, bedeutet nicht, zu allem Ja und Amen zu sagen
Es sollte nicht darum gehen, extreme Positionen zu tolerieren. Es ist auch wichtig, der Toleranz Grenzen zu setzen. Wenn heute Leute schreien, dass wir in einer Diktatur leben, muss man — bei aller Ambiguitätstoleranz — sagen: Es reicht, das ist eine Position, die null Gehalt hat.“
Die Fähigkeit, Widersprüche hinzunehmen, ist insgesamt schon ein Stück weit verloren gegangen. In Krisenzeiten wie jetzt gibt es bei dem Einzelnen schon einen gewissen Tunnelblick und das Freund-Feind-Denken zunehmen. Gerade heute, da die Welt uneindeutiger wird, gibt es eine Sehnsucht nach Klarheit. Viele wollen Eindeutigkeit. Mit Corona war das deutlich zu sehen: Man wollte und will genau wissen: Schützt die Impfung klar vor dem Virus oder nicht?“
Aber ist die Gesellschaft angesichts all der Krisen tatsächlich tiefer gespalten als früher? Experten melden Zweifel an. Der deutsche Soziologe Steffen Mau betont, dass man die These von der gesellschaftlichen Polarisierung in zwei verfeindete Lager nicht überbewerten dürfe. Mau verwendet das Bild von der Kamel- und der Dromedar Gesellschaft.
Während beim Kamel zwei Höcker durch ein tiefes Tal getrennt werden, formt der Höcker beim Dromedar einen Bogen, wie Mau in einem Beitrag schrieb. „Die soziale Welt ist eher Dromedar als Kamel.“ Die „Pufferzone der Gesellschaft“, also die Mitte, sei „weitaus größer als die polarisierten Fraktionen“. In Wahrheit müsse man von „moderaten Differenzen innerhalb der Gesellschaft und eher stärkeren Radikalisierungen am Rand“ sprechen.
Oft scheint es, als würden sich im Alltag nur noch verfeindete Lager gegenüberstehen.
Die Fronten wirken in aktuellen politischen Fragen verhärtet, beim Ukraine-Krieg, bei der Inflation, beim Coronavirus. Und nicht wenige Zeitgenossen fühlen sich im Besitz der Wahrheit, ihr Weltbild lässt sich klar in Schwarz-Weiß-Farben ausmalen — nachzulesen auch bei den Social-Media-Kommentaren.
Weil man sich im Netz meist nur mit Gleichgesinnten austauscht, setzt sich dort rasch die Überzeugung durch, auf der richtigen Seite zu stehen. Nebenbei wird so auch die Sehnsucht nach einfachen Erklärungen in einer komplizierter werdenden Welt befriedigt.
Wenn etwas sehr komplex und undurchschaubar ist, hat das offensichtlich eine gewisse Bedrohlichkeit. Einfache Erklärungen würden alles überschaubarer und handhabbarer machen. Wenn in der Social-Media-Blase alle einer Meinung seien, könne sich der Einzelne bestätigt fühlen in der Annahme, dass bei mir alles stimmt: Das heißt, ich muss nichts ändern.
Aber die Realität ist normalerweise nicht einfach — und das war sie auch früher nicht. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman stellte schon Mitte der 199oer-Jahre fest, Widersprüche gehörten nun einmal zum Leben. Seine These: „Das Leben eines denkenden und mitfühlenden Menschen ist zum Risiko, zur Unsicherheit und zur Verantwortung verdammt.“
Tatsächlich scheint heute alles noch viel komplizierter zu sein als in den 198oer-Jahren. Es ist ein Zeichen von Klugheit, diese Komplexität und Ambiguität zu akzeptieren. Dazu gehört, abweichende Meinungen zu akzeptieren. Denn: „Die allermeisten Menschen und die allermeisten Verhältnisse sind nicht einfach in Gut und Böse aufteilbar.